Visuelle Albträume

Extreme Winkel, grelle Farben und verzerrte Perspektiven kennzeichnen die Bildwerke des Expressionismus, einer künstlerischen Bewegung, die seit 1905 vor allem in Deutschland und Österreich aufblüht.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzen sich viele Künstler:innen mit dem Grauen und der Verunsicherung der Menschen auseinander – und inspirieren damit das deutsche Kino.

George Grosz, Explosion, 1917 (Quelle: moma.org)

Ein deutscher Horrorfilm

1920 wecken mysteriöse Plakate die Neugier der Berliner:innen. Sie werben für ein günstig gedrehtes Filmexperiment: Robert Wienes Das Cabinet des Doktor Caligari (D 1920) – ein Horrorfilm um einen teuflischen Hypnotiseur, der die Ängste der vom Krieg zerrissenen Gesellschaft auf die Kinoleinwand bringt. Das expressionistische deutsche Kino ist geboren.

Caligari spielt in einer ganz und gar künstlichen Welt. Wie in Trance bewegen sich die Darsteller:innen mit umrandeten Augen, blassen Gesichtern und verzerrter Mimik durch groteske Dekors.

„Du musst Caligari werden!“ – Anzeige Lichtbildbühne (Quelle: Deutsche Kinemathek)

Statt realitätsnaher Bauten stehen bemalte Leinwände am Filmset in Berlin-Weißensee. Mit seinen perspektivischen Verzerrungen, dem effektvollen Einsatz von Licht und Schatten und einer geisterhaften Atmosphäre wirkt Caligari stilbildend für den expressionistischen Film.

Das Filmkunstwerk muß eine lebendige Grafik werden.

Hermann Warm, Szenenbildner

Eine Skizze der Szenenbildner im Vergleich mit dem Filmset.

Caligari beeinflusst die Ästhetik des deutschen Kinos bis Mitte der 1920er Jahre maßgeblich. Der Film kommt jedoch nicht bei allen gut an. Der Kritiker Herbert Ihering bemängelt, die Schauspieler:innen agierten ohne Energie in formal überhöhten Landschaften und Räumen.

Filmausschnitt Das Cabinet des Doktor Caligari (1920) (Quelle: Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Friedrich-Wilhlem-Murnau Stiftung, Wiesbaden)

Das Cabinet des Doktor Caligari wird dennoch zur Kinosensation. Der Film begeistert das Publikum im In- und Ausland. Auch die in Deutschland herrschende Inflation kommt dem Film zugute. Durch den günstigen Wechselkurs spielt die Produktion im Ausland im Nu ihre Kosten wieder ein.

Schatten bis nach Hollywood

Die düstere Fantastik bleibt lange Zeit das Markenzeichen des deutschen Kinos. Ein Qualitätsmerkmal, das beim Bildungsbürgertum in Deutschland ebenso Anklang findet wie beim internationalen Kinopublikum.

Mit den vielen deutschsprachigen Filmschaffenden, die ab 1933 vor den Nazis in die USA fliehen, gelangt der Schattenstil nach Hollywood. In den düsteren Kriminalthrillern der 1940er- und 1950er-Jahre, dem Film Noir, lebt die albtraumhafte Welt des Expressionismus weiter.

Weitere Bildquellen
– Filmstills Caligari (1920), Filmstill Nosferatu (1922), Filmstill M (1931): Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Friedrich-Wilhlem-Murnau Stiftung, Wiesbaden
– Filmstill: The Unsuspected (1947): filmschoolrejects
– Filmstill: The Big Sleep (1946): Masheter Movie Archive / Alamy Stock Photo
– Filmstill: This Gun for hire (1942): filmschoolrejects
– Filmstill: The Lady from Shanghai (1949): Still aus The Lady from Shanghai (1949)