Live-Ton im Vorführsaal

Bis Ende der 1920er Jahre gibt es keine technische Möglichkeit, Ton synchron – also zeitgleich – zum Bild abzuspielen. Dennoch waren Stummfilm-Vorführungen keineswegs stumm.

Nicht nur der Projektor rattert hinter den Sitzreihen. Weil es keine festen Anfangszeiten gibt, herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Allein um diese Unruhe zu übertönen, werden die Filmprogramme musikalisch untermalt.

Auf verschiedene Arten wird versucht, die Tonlosigkeit der Bilder live im Vorführsaal zu überwinden.

Pianist:innen improvisieren zum Geschehen auf der Leinwand. In großen Sälen spielen Orchester für den Film geschriebene Partituren. Wo für Livemusik kein Platz ist, beschallen Musikautomaten und selbstspielenden Klaviere die Kinos. Zur Not tut es auch ein Grammophon.

Während Filmmusik bis heute die Emotionen der Zuschauer:innen lenkt, sind Filmerklärer:innen nahezu ausgestorben: Wie Conférenciers leiten sie das Publikum durch die Handlung. Manche Szenen werden extra in die Länge gezogen, um ihren improvisierten Erläuterungen Raum zu geben.

Autos hupen, Telefone klingeln, Lokomotiven pfeifen. Bei besonderen Anlässen – wie der Premiere von Walther Ruttmanns Sinfonie der Großstadt (D 1927) – sitzen Geräuschemacher:innen im Publikum. Solo-Musiker:innen können bei Kinoorgeln oder Photoplayern auf Knopfdruck oder Seilzug Effekt-Geräusche einspielen.

Ein Photoplayer in einem amerikanischen Wohnzimmer in vollem Einsatz (Quelle: ealoseey/YouTube)

Ein Stummfilm klingt bei jeder Aufführung anders. Um die Vorführungen einander anzugleichen, legen die Produktionsfirmen den Filmkopien Cue-Sheets bei: Stichwortzettel, die vermerken, welche Musik wann gespielt werden soll. Bevorzugt wird dabei auf Schlager und Operetten-Hits zurückgegriffen.

Zeitangaben
Szenenbeschreibung
Musiktitel
Notizen

Cue Sheet zu Stella Dallas (USA 1925), Produzent: Samuel Goldwyn, Regie: Henry King (Quelle: newmusicusa.org)

Die Versuche Musik und Geräusche synchron, also deckungsgleich mit der Handlung einzuspielen, muten mitunter absurd an: Noten werden in den Film kopiert (die auch die Zuschauer:innen lesen können); Filmvorführer:innen geben (störende) Lichtsignale an die Dirigent:innen, der Taktschlag wird mit der Projektion synchronisiert.

Das Ende der Live-Vertonung

Das Lichttonverfahren bringt schließlich Bild und Ton zusammen auf die Leinwand. Und besiegelt das Ende der Live-Beschallung: Der Tonfilm verdrängt den Stummfilm – und mit ihm die Musiker:innen aus den Kinosälen…

Weitere Bildquellen
– Kinozuschauer:innen und Leinwand: The Everett Collection
– Leinwand und Orchester: Ulrich Illing: Die Babelsberger Tonfilm-Geschichte Ein Bilderbuch, S.8