Revolution im Kino

Mitte der 1920er-Jahre erobert sich ein Land einen Platz auf der Weltkarte des Kinos: Mit einer explosiven Mischung aus Propaganda und Avantgardekunst drängt das sowjetische Revolutionskino international ins Rampenlicht.

Filme für die Massen

Als 1917 die Oktoberrevolution in Russland den Kommunismus an die Macht bringt, versteht deren Anführer Lenin schnell: Um den Sieg zu sichern, muss er die Unterstützung der Massen gewinnen. Bloß: Ein Großteil der Menschen in dem riesigen Land kann nicht lesen. Auch deshalb sieht Lenin in der Bildmacht des Kinos ein ideales Mittel der Aufklärung und Beeinflussung.

Doch das revolutionäre Sowjetkino muss erst noch geschaffen werden: Die Filmproduktion wird verstaatlicht. An der ersten Filmhochschule der Welt, in Moskau, genießen Lehrkräfte und Studierende außergewöhnliche Freiheiten. Auch unter dem Eindruck von Griffith‘ Filmen setzen sie sich vor allem mit den Möglichkeiten des Filmschnitts auseinander.

V. Nikandrov als Lenin in Eisensteins Октя́брь (Oktober UdSSR 1928) Quelle: Wikimedia Commons)

Der Kuleshow-Effekt

1921 führt der Filmtheoretiker, Dozent und Regisseur Lew Kuleshow seinen Student:innen eine Aufnahme eines Schauspielers vor, die er dreimal mit einer anderen Aufnahme kombiniert.

(Bitte zügig hintereinander auf die Punkte rechts und links pro Bild klicken)

Je nach Kombination erkennen die Studierenden einen anderen Ausdruck im Gesicht des Schauspielers: Hunger, Trauer oder Begehren. Kuleshow folgert: die Montage von zwei beziehungslosen Aufnahmen kann eine eigene Bedeutung produzieren.

„Von allen Künsten ist das Kino für uns die wichtigste.“

Vladimir ILjitsch Lenin

Panzerkreuzer Potemkin

Nur drei Tage nach seiner Moskauer Premiere wird am 21. Januar 1926 ein Film das erste Mal vor deutschem Publikum gezeigt: Броненосец Потёмкин (Panzerkreuzer Potemkin UdSSR 1926).

Im Großen Schauspielhaus, Berlin, sehen 3000 Menschen auf Einladung der sowjetischen Handelsmission den vom Moskauer Zentralkomitee in Auftrag gegebenen Film über den Matrosenaufstand von Odessa. In eindrücklichen Bildern wirbt der Film für die Revolution.

Den Höhepunkt des Films – und des sowjetischen Montagekinos – bildet eine Szene, in der die Einwohner:innen von Odessa, die sich mit den Meuternden solidarisieren, von zaristischen Soldaten angegriffen werden.

Kollision der Bilder

Anders als bei Griffith’ fließender, kaum spürbarer Montage fügt Eisenstein die Einstellungen in der Szene als dynamisches Chaos zusammen. Die Bilder kollidieren. Kompositionen, Einstellungsgrößen, Bewegungen prallen aufeinander. Und immer wieder sind Schocks – Eisenstein nennt sie „Attraktionen“ – eingefügt: der sterbende Junge, das blutüberströmte Gesicht der alten Frau, das Baby im Kinderwagen.

Das Gesamtbild des grausamen Geschehens setzt sich erst im Kopf der Zuschauenden zusammen. Die Montage will erschüttern und aufrütteln.

Panzerkreuzer Potemkin (1925): die berühmte Treppenszene (Quelle: Deutsche Kinemathek, Berlin)

Vom Hollywoodkino unterscheidet sich Panzerkreuzer Potemkin aber auch dadurch, dass er keine klassische Held:innengeschichte erzählt. Im Mittelpunkt steht nicht der einzelne Mensch (das Individuum), sondern – ganz im Sinne des Sozialismus – die Gruppe (das Kollektiv). Die Rollen besetzt Eisenstein daher auch überwiegend mit Lai:innen, die bestimmte „Typen“ aus dem Volk verkörpern.

Konterrevolution

Die aufrührerische Kraft des Films ruft in vielen kapitalistischen Ländern Zensor:innen auf den Plan – auch in Deutschland. Zeitweise ist die Aufführung des Films gänzlich verboten.

Bei den russischen Machthaber:innen fällt Eisenstein in Ungnade. Stalin setzt auf leichte Filme, die – simple Propaganda – ihn und das Leben in der Sowjetunion preisen.

Ein Propagandaposter huldigt Stalin (Quelle: timecamera)

Weitere Bildquellen
– 3 Slider: Der Kuleshow-Effekt: imdb.com
– 4 Filmstills: Battleship Potemkin-The Odessa Steps: Deutsche Kinemathek, Berlin